Zeugenaussage

Aussage des Zeitzeugen Paul Wunder vom 9. Februar 1980 über die Verhältnisse in der AOK Anfang Juli 1933 und über die Rieseberg-Opfer:

"Am 3. Juli war die ganze Miag [Mühlen- und Industriebau-Aktiengesellschaft] von SA umstellt. Gerade als ich mich umgezogen hatte, kam mein Meister mit zwei SA-Männern, die eine Liste hatten, durchsuchten mein Spind und trieben mich in den Waschraum. Von der Unfallstation brachte uns die "Minna" in die AOK [Allgemeine Ortskrankenkasse Braunschweig, Am Fallersleber Tor]. Die Treppe zum ersten Stock war links und rechts mit SA-Leuten bestückt, alle hatten die Sturmriemen runter und Gummiknüppel in der Hand. Knüppeldick hagelten die Schläge bis oben in den Raum. Dort trafen wir die schon vor uns in der Stadt Verhafteten, die zum Teil schon nicht mehr menschenähnlich aussahen, so hatte man sie zerschlagen. Die Verhafteten mussten sich aufstellen, Namen, Funktionen und persönliche Umstände nennen. Das dauerte bis zum Dunkelwerden. Die einzelnen Gruppen der SA-Leute gingen durch die Reihen und suchten Menschen, die sie aus Versammlungen, Schlägereien usw. kannten. Diese verprügelten sie. Beim Dunkelwerden wurden wir in den Keller geführt. Unten waren Badewannen, weil die Krankenkasse früher verschriebene Bäder selbst ausführte. In die Badewannen kamen die hinein, welche den Folterungen inzwischen halb erlegen waren. Im Keller wurden wir alle an die Wand gestellt. Dann mussten wir uns zum Schlafen hinkauern. Später kamen die angetrunkenen Gruppen bis in die frühen Morgenstunden, um sich die Vögel anzusehen, die sie gefangen hatten. Dann wurde wieder und wieder geschlagen... In der Mitte des Raumes waren Besenschränke. In die wurden jene hineingestellt, die schon vorher verhaftet worden waren. Sie mussten die ganze Nacht singen: "Das Wandern ist des Müllers Lust".. Am Morgen des 4. Juli tagte das Tribunal, zu dem wir hingeprügelt wurden. Die ganze Braunschweiger Nazi-Prominenz war anwesend, und ein Nazi befahl links und rechts raus. Rechts raus kamen zwölf Mann, links raus wurde durch die Gasse wieder in den Keller hineingeprügelt. Am Abend kamen zwei Mann wieder, die Tapferkeitsauszeichnungen aus dem 1. Weltkrieg besaßen. Gattermann, der Kellerkommandant, hat uns am nächsten Morgen erklärt: "Macht euch keine Illusionen. Anläßlich der Beerdigung Landmanns sind gestern zehn von euch erschossen worden. Wehe, wenn draußen etwas passiert, dann verlasst ihr diesen Raum nicht mehr lebend."
Bis zum 29. Juli blieb ich in der AOK, dann bin ich vom Sondergericht dort verurteilt worden. Wir bekamen pauschale Urteile. Alle Kommunisten von der Miag bekamen drei Monate, alle Sozialdemokraten zwei Monate und alle Parteilosen sechs Wochen. Höhere Funktionäre bekamen höhere Strafen."

Quelle: Bein (2000)