Die Sinti und Roma in Braunschweig-Veltenhof
Interview mit Elvira R.
"Bekämpfung der Zigeunerplage"

Die "Zigeunerklasse" der Schule Veltenhof
"Der liebe Gott wollte mich nicht verbrennen lassen"
Q: Krokowski, Unmenschenmöglich, S. 34.
Eine anonymisierte Aufnahme einer Braunschweiger Sintessa.


Elvira R.: Zigeunerlager Auschwitz-Birkenau R: Elvira R., K: Frau Krokowski, H: Ehemann von Frau R., W: Frau Weiss

Frau Elvira R.s Familie wohnt in Berlin, hier wird sie 1929 als jüngstes Kind geboren. Nach einigen Jahren zieht die Familie nach Aachen, wo sie eine Wohnung hat. Nach nur anderthalb Jahren muß Elvira R. die Schule dort wieder verlassen.

Und dann haben wir da noch eine Zeit gewohnt, dann kam die Zeit, wo die ersten Lebensmittelkarten kamen. Da wurden mein Bruder und meine Schwägerin in Kassel verhaftet, und meine Schwester war im Pflichtjahr beim Bauern, als Haushälterin. Da ist meine Schwester nach Kassel gefahren und hat die fünf Kinder [des Bruders] geholt, der Kleinste war neun Monate alt. Dann hat meine Mutter ein Schreiben gekriegt, da stand drin, "In 24 Stunden die Stadt verlassen". ... Dann sind wir in Braunschweig angekommen..., mit den fünf Kindern von meinem Bruder. Ich war damals ungefähr acht. ... Da hatten wir nichts, keinen Wohnwagen, nichts, nur mit dem Kinderwagen und sechs Kindern kamen wir da an. Da haben uns die Verwandten geholfen. Hinterher kam meine Schwester, die mußte von ihrer Stelle weg, sie durfte nicht mehr arbeiten, weil sie eine Sintizza war. ... Meine Schwester ist dann arbeiten gegangen beim Kohlehändler, mein Vater hat in einer Eisenfabrik gearbeitet. ... Ich bin zur Schule gegangen, [aber ein] paar Tage später mußten wir alle die Schule verlassen. Nicht bloß ich, die ganzen Braunschweiger [Sinti]. Dann sind wir bei den Bauern arbeiten gegangen. Das war ja früher schon so, die ganzen Braunschweiger Sinti haben gearbeitet bei den Bauern, Mohrrüben gehackt, Mohrrüben verziehen, Kartoffeln roden hinter der Maschine, oder Erbsen, Bohnen oder Gurken gepflückt. Manche haben im Hafen gearbeitet. In die Schule durften wir ja nicht, da sind wir arbeiten gegangen ... Dann war ich ungefähr zwölf, da ... hat meine Mutter einen Brief gekriegt, da mußte ich eine Zwangsarbeit machen, in einer Wäscherei.

Das Mädchen muß jeden Tag den Weg zur Wäscherei zu Fuß gehen, eine Strecke von insgesamt fast 20 Kilometer, denn wie in vielen anderen deutschen Städten wird den Sinti in Braunschweig verboten, Busse und Straßenbahnen zu benutzen.
Anfang März 1943 wird das Sammellager in Braunschweig-Veltenhof von der Polizei umstellt. Den Sinti werden die Wertsachen abgenommen, und sie werden zum Bahnhof gebracht.

Und einen Tag, das war am Sonnabend ... haben sie [die Polizisten] gesagt, "Keiner geht zur Arbeit!". ... Da haben sie uns eingekreiseit. ... Sie gingen Wagen für Wagen [und fragten], ob wir Gold haben, Geld haben. Der Kriminal[-beamte] Wenzel, der stand vor unserem Wagen, er hat mit meiner Mutter gesprochen. Meine Mutter hat eine rote Sparbüchse gehabt, die war aber gemacht wie ein Buch, und da hat sie ihm das Geld gegeben. Und er hat es genommen und einfach in seine Tasche reingetan und hat es nicht notiert. Da hab ich zu meiner Mutter gesagt, in unserer Sprache aber, "Mama, der Mann tut einfach das Geld in seine Tasche rein". Da hat sie gesagt, ich soll ruhig bleiben. Weil die Alten, die haben das schon geahnt, die haben das im Gefühl gehabt. Als wir in die Züge reingegangen sind, da haben die Älteren auch gesagt, "Wir Alten, wir kommen nicht mehr hier nach Hause." ... Die [Kriminalpolizisten] haben ja zu uns gesagt, wir kommen irgendwohin, nach Polen, da kriegt jeder sein kleines Häuschen, ein Stück Land und Viehzeug, und das müßten wir dann alleine bearbeiten.

Die Braunschweiger Sinti, unter ihnen Elvira R., ihre Eltern und Geschwister, werden zusammen mit den Sinti aus Minden und Hannover, die sich schon im Zug befinden, nach Auschwitz-Birkenau deportiert, wo sie am 3. März ankommen.


pdf-Datei Das gesamte Interview

Q: Hein, C.M.; Krokowski, H.:"Es war unmenschenmöglich".Sinti aus Niedersachsen erzählen - Verfolgung und Vernichtung im Nationalsozialismus und Diskriminierung bis heute. Hrsg. vom Niedersächsischen Verband Deutscher Sinti e.V., Hannover 1995