Die
größte bekannte
Massenhinrichtung an ausländischen Arbeitern im Land Braunschweig
durch die Gestapo während des Krieges fand am 3. September
1944 in der Stadt Braunschweig auf dem Gelände der Firma
Büssing Nutzfahrzeuge Aktiengesellschaft (Büssing NAG)
statt: Die Gestapo ließ dort neun Jugendliche aus der Sowjetunion
im Alter von 16 bis 27 Jahren am selben Tag erhängen, nachdem
sie wenige Tage zuvor in das Hallendorfer Straflager eingeliefert
worden waren.
Geleitet wurde die Durchführung der Massenhinrichtung, die
in der Größenordnung auch für die Beamten in
der Staatspolizeistelle Braunschweig ungewöhnlich war, vom
Abteilungsleiter der „Inneren Politischen Polizei“,
Kriminalkommissar Fritz Flint. Um eine hohe einschüchternde
Wirkung zu erzielen, hatte dieser die Hinrichtungen so zu organisieren,
daß das Ereignis sämtlichen Ausländern im Stadtgebiet
als Warnung dienen sollte. Neben den Rücksprachen mit dem
Reichssicherheitshauptamt wurden offenbar zwischen Gestapo und
Unternehmen entsprechende Vereinbarungen getroffen, denn ohne
Einwilligung der Unternehmensleitung wäre die Durchführung
der Hinrichtungsaktion, bei der zudem Mitarbeiter des Werkes
anwesend sein sollten, nicht im Werk möglich gewesen.
Die Aktion wurde jedoch zunächst um zwei Wochen verschoben,
weil einer der sowjetischen Arbeiter geflohen war. Als nach einer
groß angelegten Fahndungsaktion die Verhaftung des Geflohenen
erfolgte, organisierte die Gestapo unmittelbar darauf die Vollstreckung.
Die Hinrichtungen wurden an einem Sonntag durchgeführt,
so daß den ausländischen Arbeitern, für die der
Tag arbeitsfrei war, die Pflicht auferlegt werden konnte, der
Exekution beizuwohnen, ohne die Produktion einzuschränken.
Der ehemalige Leiter des Büssing-Lagers Griegstraße/Mascherode,
Wilhelm F., erhielt von seinen Vorgesetzten die Weisung, die
männlichen Bewohner des rund 1000 Personen umfassenden „Ostarbeiterlagers“ im
Büssing-Werk antreten zu lassen. In einem späteren
Ermittlungsverfahren hält ein Vermerk des Sonderdezernats
der Kriminalpolizei Braunschweig aus dem Jahre 1950 dazu fest:
„Zu der ... durchzuführenden Exekution erhielt F.
vom Gestapoleiter Flint den Auftrag, sich mit sämtlichen
männlichen Fremdarbeitern seines Lagers (Maschrode) um 15.00
Uhr auf dem Fabrikgelände der Fa. Büssing (Stammwerk)
einzufinden. Das Mitbringen von Frauen und Kindern hierzu ist
verboten, hieß es ausdrücklich in diesem Befehl. F.
hat dann auch mit seinen 900 russ[ischen] Staatsangehörigen
in der Halle ‚Materialannahme’ Aufstellung genommen.
Außer diesen Fremdarbeitern waren dort noch anwesend: Ein
größeres Kommando von russ[ischen] Kriegsgefangenen
unter der Bewachung von Landesschützen, einem Kommando russ[ischer]
Häftlinge aus dem Arbeitserziehungslager (‚Lager 21’)
und einem großen Aufgebot schwerbewaffneter SS-Leute zur
Absperrung sowie ein Staatsanwalt und einige Gestapobeamte.
Nachdem die Häftlinge des ‚Lagers 21’ Blöcke
und Bretter zu einem Podest unter einem großen Eisenträger
der Halle zusammengestellt hatten, erschien ein Gestapobeamter
... auf dem Podest und befestigte 9 Stricke mit Eisenträgern
am Stahlträger. Dieser Gestapomann übersetzte sodann
das ... Todesurteil in russ[ische] Sprache und befahl nunmehr
seinem Häftlingskommando des ‚Lagers 21’, die
Todeskandidaten, deren Hände auf dem Rücken zusammengebunden
waren, auf die Bretter zu transportieren, ihnen die Schlingen
um den Hals zu legen und wieder herunter zu kommen. Dann gab
er das Kommando zum Wegziehen der Blöcke, so daß die
neun Menschen mit der Schlinge um den Hals frei in der Luft baumelten.
Nunmehr mußten alle anwesenden russ[ischen] Staatsbürger
an diese[n] gehängten Landsleute vorbeiziehen ...“
Die Erhängten wurden aus verschiedenen Lagern, die sich
bei den großen Rüstungsbetrieben der Stadt befanden,
ausgewählt: Zwei der Erhängten wohnten in dem Büssing-Lager
Griegstraße, während die anderen zu den Lagern in
den Industriegebieten der Hamburger Straße und der Frankfurter
Straße gehörten.
Die polizeilichen Todesurteile - so erinnerte sich F. - wurden
damit begründet, daß die Erhängten gemeinsam
bei Fliegeralarm während der Nachtschicht unter Ausnutzung
der Verdunkelung Diebstähle, überwiegend Einbruchdiebstähle,
begangen hätten, und zwar in den Wohnhäusern in der
Nähe des Zuckerbergwegs, der Charlottenhöhe und der
Seesener Straße. Ob das die Bereitschaft der Unternehmensleitung
erklärt, die Hinrichtungen im Betrieb durchzuführen?
Jedenfalls handelte es sich um ein bevorzugtes Wohnviertel südlich
der Büssing-Werke in der Nähe des bekannten Photoapparate-Herstellers
Franke & Heidecke (Rollei-Werke). Dort wohnten nicht nur
hohe SS- und Polizeiführer (u.a. der Höhere SS- und
Polizeiführer Pancke), sondern auch mehrere leitende Direktoren
der Büssing-Werke, von denen zwei, darunter Rudolf Egger-Büssing,
mit Gestapo-Mann Flint verhandelten. Es scheint, als habe sich
die Staatspolizeistelle Braunschweig mit der Firmenleitung erfolgreich
darum bemüht, das von Kaltenbrunner angekündigte Exempel, „die
zehnfache Anzahl aus dem Kreise verdächtigter oder vorschubleistender
Personen“ aufzuknüpfen, zu statuieren.
[Die] Gestapo Braunschweig entschied anschließend, ob die
Hingerichteten im Krematorium Braunschweig verbrannt oder durch
ein privates Bestattungsinstitut auf den Ausländerfriedhöfen
beerdigt wurden.
Die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen erfolgte
ebenfalls grundsätzlich durch die Gestapo selbst: Die Staatspolizeistelle
Braunschweig meldete beispielsweise den Vollzug der Hinrichtung
eines Polen an das Reichssicherheitshauptamt. Die zuständige
Abteilung, das Referat IV D 2 („Polenreferat“) benachrichtigte
daraufhin die zuständige Staatspolizeistelle im Wohngebiet
der Angehörigen mit dem ausdrücklichen Hinweis, die
Familienangehörigen ausschließlich mündlich und
ohne Angabe der Todesursache darüber zu informieren, daß der
Betreffende „verstorben“ sei. Der hohe bürokratische
Aufwand, den sich die Gestapo auf der einen Seite leistete, um
polizeiliche Hinrichtungen anzuordnen und zu vollstrecken, entsprach
auf der anderen Seite das Bestreben, die Spuren des Verbrechens
zu verwischen.