Stadt Braunschweig
"Konzept zur Planung, Errichtung und Gestaltung
städtischer Erinnerungsstätten zur nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft" (kurz: "Gedenkstättenkonzept")
"Groß ist die Kraft der
Erinnerung, die Orten innewohnt".
Cicero: De finibus bonorum et malorum
"Erinnerungsorte
sind zersprengte Fragmente eines verlorenen oder zerstörten
Lebenszusammenhanges. Denn mit
der Aufgabe und Zerstörung eines Ortes ist seine Geschichte noch
nicht vorbei; er hält materielle Relikte fest, die zu Elementen
von Erzählungen und damit wiederum zu Bezugspunkten eines neuen
kulturellen Gedächtnisses werden. Diese Orte sind allerdings
erklärungsbedürftig; ihre Bedeutung muss zusätzlich
durch sprachliche Überlieferungen gesichert werden."
Aleida Assmann: Erinnerungsräume
"Die Zukunft hat eine
lange Vergangenheit"
Sich mit der nationalsozialistischen Geschichte zu beschäftigen,
heißt zunächst, die Bedeutung der Vergangenheit für
die Gestaltung der Zukunft anzuerkennen. Auf der Basis dieser Erkenntnis
ist der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in den
letzten Jahren zu einem wesentlichen Bestandteil der politischen Kultur
in Deutschland geworden. In der bundesweit intensiv geführten
Debatte um die Bedeutung der nationalsozialistischen Geschichte für
die Gegenwart, deren Kristallisationspunkt die neue Hauptstadt Berlin
ist, geht es auch für die Stadt Braunschweig und die Region um
eine Positionsbestimmung.
Das "Konzept zur Planung, Errichtung und
Gestaltung städtischer Erinnerungsstätten zur nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft" (kurz: "Gedenkstättenkonzept")
wurde von einer Expertengruppe unter Federführung der Stadtverwaltung
entwickelt, um sich diesen Anforderungen zu stellen. In einem mehrjährigen
Diskussionsprozess wurden Leitgedanken für die Gestaltung von
Erinnerungsorten und die Formung einer städtischen Gedächtniskultur
formuliert. Im Februar 2001 hat der Rat der Stadt dem daraus entstandenen
"Gedenkstättenkonzept" zugestimmt.
Orte als Träger von Erinnerung
Kerngedanke des Konzeptes ist, dass sich historische Zeiten im Stadtraum
an einzelnen Orten festmachen lassen und dass an diesen historisch
bedeutsamen Orten Geschichte vermittelt werden kann. Einig war sich
die Expertengruppe in der Ablehnung der Errichtung eines 'zentralen
Mahnmals' für alle Opfergruppen. Stattdessen gilt es, die unterschiedlichen
Geschichts- und Erinnerungsorte sichtbar, erfahrbar und verstehbar
zu machen. Hierzu müssen die jeweiligen, konkreten historischen
Zusammenhänge, in denen diese Orte stehen, entdeckt und "freigelegt",
schließlich gekennzeichnet und erläutert werden.
Als Grundlage für diese Form der Spurensuche und Stadterkundung
erstellte die Arbeitsgruppe für das "Gedenkstättenkonzept"
eine umfangreiche topografische Bestandsaufnahme wichtiger Orte der
Erinnerung. Diese stellt die Grundlage für die weitere Arbeit
dar und führt die Durchdringung und Inbesitznahme der Stadt wie
der Gesellschaft durch das nationalsozialistische System vor Augen.
Gerade in der durch die frühe - bereits 1930 beginnende - nationalsozialistische
Regierungsbeteiligung geprägten Region und Stadt Braunschweig
erzählt eine Vielzahl von steinernen Zeugen und Zeitzeichen von
der Vergangenheit.
Die Idee eines "Vernetzten Gedächtnisses"
Dem "Gedenkstättenkonzept" geht es nicht nur um die
Errichtung von Denk- oder Mahnmalen im traditionellen Sinne - wobei
deren wichtige Funktion im Gedenken an die unzähligen Opfer und
in der Erinnerung an das geschehene und verübte Leid selbstverständlich
bestehen bleibt. Ebenso bleibt die stete Würdigung der Überlebenden
und persönlich Betroffenen, beispielsweise durch die Einladung
im Rahmen von Besuchsprogrammen, wichtige Aufgabe der Stadt.
Von besonderer Bedeutung für die zukünftige Erinnerungsarbeit
ist darüber hinaus jedoch die Vision eines schrittweise entstehenden
"Vernetzten Gedächtnisses", die von Mitgliedern der
städtischen Arbeitsgruppe in das "Gedenkstättenkonzept"
eingebracht wurde: Aus dem Zusammenspiel bewahrter oder neu entdeckter
Erinnerungen, aus der Erforschung und Vermittlung von historischem
Wissen, aus dem Gespräch zwischen den Generationen über
die Geschichte, aus künstlerischen Aneignungs- und Ausdrucksformen
an einzelnen Orten soll ein Geschichtsbewusstsein entstehen, das auf
einem lebendigen Netzwerk von Menschen, Erinnerungen und Orten basiert.
Die historischen Orte sollen hierbei zu Knotenpunkten dieses "Vernetzten
Gedächtnisses" gestaltet werden, an denen jeder Einzelne
im positiven Sinne "irritiert" und zum fragenden Nachdenken
angeregt wird. Denn erst dieser individuelle Blick, die Perspektive
und die Neugier einzelner Menschen, lässt die Kraft der Erinnerung,
die in den Orten verborgen ist, wirksam werden.
Der Gedanke der Vernetzung bezieht sich zunächst auf die Stadt
Braunschweig, soll aber zukünftig durchaus über die Stadtgrenzen
hinaus auch bundesweit wirken und so die regionale wie überregionale
Zusammenarbeit in diesem kulturellen Bereich anregen.
Das "Offene Archiv" als Grundstein
des "Vernetzten Gedächtnisses"
Einen zentralen Ort wird das "Vernetzte Gedächtnis"
in dem von der Künstlerin Sigrid Sigurdsson von 1996 bis 1998
für die Stadt Braunschweig entwickelten "Offenen Archiv"
finden. Zunächst konzipiert als Mahnmal für die Opfer des
Braunschweiger KZ-Außenlagers an der Schillstraße, wurde
dieses Projekt zum Anstoß für einen demokratischen, gesamtstädtischen
Dialog über die Vergangenheit. Über 70 Institutionen, Verbände
und Einzelpersonen haben durch Dokumente und Erinnerungsberichte dazu
beigetragen, dass das für jedermann zugängliche, in der
Gedenkstätte KZ-Außenlager Braunschweig Schillstraße
verwahrte "Offene Archiv" eine breite Materialsammlung und
zugleich Zeugnis eines kommunalen Erinnerungsprozesses geworden ist,
der bundesweit Resonanz erfährt.
Wege zum "Vernetzten Gedächtnis":
Einzelprojekte
Mit verschiedenen Projekten sollen mittelfristig die Überlegungen
des "Gedenkstättenkonzeptes" und die Idee des "Vernetzten
Gedächtnisses" umgesetzt werden.