Braunschweig, 29. September 1943
Liebe Ursel und lieber Hermann!
Nun haben wir unsere Feuertaufe auch hinter uns. Es sollen nur 8 Flieger
hiergewesen sein, die von Hannover über den Harz nach Braunschweig abgedrängt
worden sind. Sie haben aber genug Schaden angerichtet. Direkt in der Verlängerung
unserer Straße, Bültenweg, geht es an. Ein großer Trichter mitten in der
Straße, das Wasserrohr zerstört. Deshalb hatten wir einen ganzen Tag kein
Wasser. Oma und ich machten einen Rundgang durch das zerstörte Gebiet.
Ein großes Quadrat Häuser war ganz flach, keine Mauer stand, nur ein paar
Schornsteine, ein Trümmerhaufen nur. In den Straßen manche Häuser ganz
zerstört, und ganze Straßenzüge mit geplatzten Scheiben und zerschmetterten
Fensterflügeln. Es sind in anderen Stadtgebieten auch noch viele Häuser
zerstört. Überall wurden die Möbel, verstaubt und verdreckt, herausgetragen.
Die Menschen räumten schon überall auf. Auf den Trümmern ihres kleinen
Hauses saß eine Frau und lachte. In der Nimo hatte ein Mann Wache. Als
er morgens nach Hause kam, fand er seine Schwiegereltern tot, auch seine
Frau und seine beiden Kinder. Eine Frau flog aus einem explodierenden
Haus in das gegenüberliegende durchs Küchenfenster. Ich war so froh, als
ich nach Hause kam und unser Häuschen noch so heil und sauber ohne Scherbengarnierung
vorfand. Zwar, ein Häufchen Schutt lag auch auf dem Hof. Da ist bei unseren
Mädeln die schwache Decke abgeplatzt. Bei den Hühnern sind zwei Mistbeetfenster
ausgehoben. Das ist alles. Bei unserem Bäcker sind einige Dachziegeln
gelockert, und die Schaufensterscheibe ist geplatzt. Beim Schlachter steht
der Schornstein schief. Sonst ist hier nichts weiter passiert. Wir hatten
nun schon so oft Alarm, und wir waren alle sehr müde. Als die Sirene ertönte,
dachte ich, das ist ja Menschenquälerei, ich bleibe liegen. Da kam bald
Oma, dann Munni im Nachthemd, dann Onkel, der hatte noch unten gelesen.
Ich sah einmal zum Fenster hinaus, sah wieder matte Scheinwerfer hinter
dem gegenüberliegenden Haus und sagte: »Sie sind wieder in Hannover« .
Munni legte sich wieder ins Bett, ich auch. Plötzlich wurde es sehr hell,
ich sah auf, sah drei Leuchtbomben am Himmel, ich raste zu Munni, »feindliche
Flieger«, dann ins Badezimmer, mich anzuziehen. Es knallte schon furchtbar.
Schuhe, Strümpfe, Schlüpfer, Rock an, darüber den Kittel, zwischendurch
sah ich zum Fenster hinaus, zwei Weihnachtsbäume am Himmel. Das übrige
Zeug raffte ich zusammen und runter. Onkel rief: »Wo sind meine Stiefel,
wo ist mein Rock!!!« Unten schnappte ich meine Gasmasken .... und Verbandkästen,
da liefen Onkel und Munni im Dunkeln gegen mich an, und, Krach, lag alles
unten. Ich wieder alles hoch, dann ging es hinüber. Oma und Munni waren
schon vor mir. In der Haustür stehend brüllte ich zu den Mädchen rauf:
»Seid ihr alle unten?« Indem wurde es taghell, ein Krach, ich flog ...
(Liebe Ursel, hier mußte ich meinen Brief gestern
abend unterbrechen, weil wir Alarm hatten. Im Luftschutzkeller saß schon
Viktoria mit ihrem Gebetbuch. Es war Gott sei Dank nichts, und wir konnten
bald schlafen gehen).
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Also weiter in meinem Bericht: Ich flog
durch den Luftdruck an die Wand und machte nun schnell, daß ich runter
kam. Ich staunte erstmal über Munni, sie stand da in Schlüpfern und zog
sich erstmal richtig an. Mitgenommen hatte sie einen Koffer, ziemlich
schwer, mit Briefmarkensammlung, und ihren Schmuckkasten, ihre Bettdecke
und zwei Decken. Angezogen hatte sie sich beim Lichte der Leuchtbomben.
Dann kamen die Mädels runter. Die hatten keinen Alarm gehört. Maria in
Pantoffeln, 2 hatten verschieden Schuhe an. Permia (?) nur einen, und
diese hatte überhaupt nur das Kleid an und fror vor Kälte und Angst. Munni
gab ihr großzügig eine von ihren Decken. Nun war das ein Getöse draußen,
die Bomben fielen, es knatterte und krachte. Wir, Munni und ich, gingen
öfter mal nach oben, um zu sehen, ob unser Haus noch steht. Onkel lief
draußen herum, ab und zu sahen wir ihn. Wir verschwanden immer bald wieder.
Denn wir konnten die Laute des Krieges nicht deuten und wußten nicht,
wie wir uns zu verhalten haben. Aber endlich wagten wir uns auf die Straße,
und es brannte in hellen Schwaden in der Richtung Braunschweig und in
der Richtung mit Blick aus Munnis Zimmer. Das war die Bautischlerei Schnur,
die uns schon so manches gebaut haben. Viele alte Bauernhäuser sind zerstört.
Die feindlichen Flieger flogen in gerader Richtung über die nördlichen
Außenbezirke der Stadt. Über der Schuntersiedlung warfen sie nur einige
Brandbomben ab, die sofort gelöscht wurden. Wir waren der letzte Wohnbezirk
und ihre Vorräte alle. 15 Bomben allein lagen im Prinz- Albrecht-Park.
Das war der Anfang: Arbeiterhäuser sind wieder einmal zerstört. Außer
einer Klavierfabrik kein größeres Gebäude. 2 Schwestern, kleine Mädchen
aus dem Kindergarten, die gerade bei ihrer Großmutter waren, wurden mit
dieser zusammen getötet. Heute stand eine Todesanzeige in der Zeitung
mit 6 Personen. Die Eltern, 3 Kinder und die Großmutter. Das war ein unbeabsichtigter
Angriff. Was mag übrig bleiben von Braunschweig bei einem Großangriff.
Oma will also Sonntag hier abfahren.
Schließlich ist es überall dasselbe, und wir müssen nur darauf vertrauen,
einmal »übrigzubleiben«.
Oma fahrt mittags ab, wie ihr, und ist
abends in Berlin.
Ich bin todmüde und immer beim Einschlafen.
Die Hauptsache weißt du ja auch nun, und ich sende Euch einen SOS-Gruß
(schlafe ohne Sirenen) und, weißt Du, schicke doch diesen Brief wieder
zurück. Es ist später vielleicht ganz interessant. Dir und Hermann die
herzlichsten Grüße. Tante Trude.
Quelle:
Friedrich, Heinz und Frieder Schöbel.
Braunschweig im Bombenkrieg. Band 1. Braunschweig: Friedenszentrum
BS e.V., 1993. S. 68-69.
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